Rebschnitt vergessen?

Im Weinberg dichtes Laubwerk, vielfach verzweigte Reben und das Mitte Mai noch vor der Blüte? Die Vermutung, dass es sich hier um einen ungepflegten oder gar aufgegebenen Weinberg handelt, scheint zunächst nahe zu liegen

Tatsächlich aber sind dies meist Weinberge, bei denen der winterliche Rebschnitt nicht vergessen, sondern bewusst unterlassen wurde. Minimalschnitt im Spalier heißt eine Bearbeitungstechnik, die auch in Rheinland-Pfalz immer mehr Anhänger und vor allem auch Anwender findet.

Bislang galt die sogenannte Spaliererziehung der Reben im Drahtrahmen mit konsequentem Rebrückschnitt auf eine oder zwei Leitruten, die im Frühjahr gebogen und an den Führungsdraht gebunden werden, als Standard und, abgesehen von der Einzelpfahlerziehung in extremen Steillagen, verbreitet in allen Anbaugebieten. Der Rebschnitt gilt als erste ertragsreduzierende Maßnahme unter dem Motto „Klasse statt Masse“. Der Minimalschnitt, der konsequenterweise eigentlich Nichtschnitt heißen müsste, verzichtet dagegen auf diese konventionelle Rebenerziehung völlig. Die wird auf den üblichen Laubschnitt reduziert.

Neben dem ökonomischen Vorteil, der im wesentlichen in einer beträchtlichen Energie- und Arbeitszeitersparnis besteht, verspricht die Minimalschnittmethode Qualitätssteigerung durch eine lockere Traubenstruktur, kleine Beeren, längere Reifezeiten, geringere Anfälligkeit gegen Sonnenbrand, Hagel und Infektionskrankheiten. Was Pilzkrankheiten angeht, muss beim Minimalschnitt durch die Gefahr der Laubwandverdichtungen aber mindestens genauso aufgepasst und gegebenenfalls behandelt werden wie im Normalschnitt. Auf die Bekämpfung von Schadinsekten kann weitgehend verzichtet werden, da die Ansiedlung von Vögeln, Raubmilben und anderen Nützlingen im Weinberg auf natürliche Weise zunimmt. Die Bekämpfung des Traubenwicklers muss allerdings auch bei Minimalschnitt erfolgen, z.B. mit Pheromon. Entscheidende Bedeutung bei dieser Anbautechnik erhält die konsequente Ertragsreduzierung, mit der eine Überlastung der Rebstöcke, Nährstoffmangel  und vor allem ein mit zu hohen Erträgen verbundener Qualitätsverlust, der zu ausdrucksschwachen, wenig aromatischen, dünnen Weinen führt, vermieden wird. Wird ein Weinberg auf Minimalschnitt umgestellt verdoppelt sich ohne konsequentes Ausdünnen der Ertrag in den ersten beiden Jahren, bis sich danach neues Gleichgewicht einstellt. Die Triebe werden kürzer, die Trauben bilden dann von selbst kleinere und weniger Beeren aus,

Abgesehen von einem Restrisiko, das in längeren Reifezeiten und entsprechend später Lese besteht, sehen viele Winzer im Minimalschnitt eine ökonomisch überlegene und eine ökologisch mit dem Normalschnittsystem zumindest gleichwertige Alternative. Noch scheiden sich am Minimalschnitt in der Winzerschaft die Geister. Für viele ist der Durchblick in der Rebzeile wichtiger als der ökonomische Vorteil.